Eine Geschichte zu Frau Percht

Es war einmal eine Seele, die noch neugieriger auf das Leben war wie alle Seelen das üblicherweise bereits sind. Und das ist schon eine ganze Menge. Also sie war ganz überaus gigantisch neugierig. Nennen wir sie Nosy.

Nosy lebte in der Kiepe von Frau Percht wie die anderen Seelen auch, die zurzeit nicht in einem Lebewesen auf Mutter Erde lebten. In der Kiepe ging es allen sehr gut: Ihnen mangelte es an nichts, sie hatten eine tolle Gemeinschaft und sprachen immer wieder davon, wie es wohl auf Mutter Erde wäre, in diesem oder jenem Lebewesen zu sein. Sie hatten alle schon viele Erfahrungen gemacht: Manche erzählten wie es war, ein starker Stein oder Fels zu sein, andere sprachen von der Weichheit der Wasserwesen, wieder andere erzählten von den überaus vielfältigen Erfahrungen, die sie als Baum, Kraut oder als Moos gemacht hatten. Auch gab es Seelen, die von ihren Erlebnissen als Vogel, Schlange oder als eines der vielzähligen anderen Tiere berichten konnten. Alles sehr, sehr spannend. Und alle hatten eines gemeinsam: Das Gefühl, ganz und vollständig verbunden mit Mutter Erde zu sein und eine Einheit zu bilden mit allen anderen Mitgeschöpfen. Ein wahrlich schönes Gefühl, fand Nosy. Das hatte sie schon mehrfach durchlebt. Und sie wollte noch mehr Erfahrungen sammeln, denn das konnte ja nicht alles gewesen sein. Darum wollte sie beim nächsten Mal unbedingt ein Menschenleben leben, das hatte sie sich fest vorgenommen.

Nun endlich war es so weit! Die dunkle Zeit brach an: die Sonnenstrahlen wurden immer schwächer, die Nacht immer länger und die Winde brausten immer stürmischer und kälter über das Land. Nosy war furchtbar aufgeregt und freute sich auf den wilden Ritt mit Frau Percht und ihrer Hundemeute, die über das Land fegen sollte. Doch zuvor blickte Frau Percht streng in ihre Kiepe hinein zu den vielen Seelen und sprach: Passt gut auf, ihr lieben Seelen! Schaut vorsichtig über den Rand der Kiepe, in welches Elternnest ihr hineinspringen wollt, und passt gut auf, dass ihr nicht einfach zufällig hinausgeweht werdet! Die Winde sind in diesem Jahr besonders heftig und rütteln und rattern an Zweigen und Fensterläden. Haltet euch gut am Rand der Kiepe fest und entscheidet weise, wohin es euch in diesem eurem nächsten Leben hinziehen soll! Besonders wichtig in diesem Jahr ist es, den Menschen die Verbindung zu Mutter Erde begreiflich zu machen. Also wenn ihr euch für ein Menschenzuhause entschließt, vergesst nicht alles, was ich euch bisher beigebracht habe! Sondern behaltet das Wissen darüber, dass alles Eins ist, tief in eurem Seelenherzen, lasst es dort aufleben und bringt es zu den Menschen.

Und dann – hui! – ging es los mit Saus und Braus über die nächtliche Landschaft! Die Hundemeute bellte, die Winde brüllten und Frau Percht lachte lauthals los, als sie die wilde Jagd über die Lande führte. Was war das für eine Pracht! Nosy schaute über den Kiepenrand und hielt sich fester als fest an ihm fest. Sie genoss den wilden Ritt, den pfeifenden Wind, das Lachen der Percht und die Ausblicke über Wälder, Seen, Felder, Wiesen und Dörfer. Die Seelen halfen Frau Percht, an den Fensterläden und losen Türen zu rütteln und zu schütteln und hatten einen Heidenspaß! Eine Seele nach der anderen schlüpfte aus der Kiepe in ein Elternnest hinein – zu dem Eselspaar, den Kaninchen, in Baumkronen, ins Wasser und in Häuser hinein. Doch Nosy wollte noch mehr sehen! Sie wollte die Welt noch länger von oben bestaunen können und blieb in der Kiepe festgeklammert.

Dann kamen sie über eine Stadt dahingebraust und Nosy machte große Augen – wie fade war das denn! Alles fest verschlossen, so wenig Bäume, um daran zu schütteln, und so wenige Tiere, denen man das Fell zerzausen konnte. Die Läden der Fenster waren fest verschlossen, die Menschen gingen unter ihren Schirmen gebeugt oder saßen in Autos und Bussen – man kam gar nicht an sie heran! Nur Müll konnte Nosy herumwirbeln. Auch gab es zwar viel elektrisches Licht, aber das war so grell, dass Nosy keine Lust verspürte, sich dorthin zu begeben. Da wurde sie ganz traurig und dachte, dass sie in diesem Jahr wohl den Anschluss an ein Leben auf Mutter Erde verpasst hätte. Sie musste wohl ein weiteres Jahr warten, um ein passendes Elternnest zu finden.

Doch da! Am Ende einer Straße mit etwas kleineren Häusern, die in Gärten standen, am äußeren Rand der Stadt, sah sie ein kleines Wunder. Eine Menschenfrau hatte eine Schale weißen, süßen Griesbrei auf ihr Fensterbrett gestellt. Ihre Fensterläden waren geöffnet und ließen den Blick frei auf eine einladend brennende Kerze hinter der Fensterscheibe. Diese war geschmückt mit Strohsternen und grünen Eibenzweigen. Die Frau selbst saß in einem gemütlichen Schaukelstuhl mit einer Decke um sich und einer dampfenden Teetasse in ihrer Hand da und blickte hinaus in die Nacht. Ihr Zimmer war voller Bücher, an der Wand sah Nosy einen Kräuterbuschen und in den Ecken viele kleine Wesen, die ihr auffordernd zuwinkten. Die Frau sah durch ihr Fenster den wilden Wolken zu und lachte, als würde sie Frau Perchta selbst bei ihrem wilden Ritt beobachten. Da wusste Nosy, dass sie genau die richtige Mutter gefunden hatte und sprang in einem großen Satz aus der Kiepe in ihren Schoß. So warm, weich und geborgen – das konnte nur gutgehen. Und so begann ganz zart und behutsam das neue Menschenleben von Nosy, der neugierigsten Seele der gesamten Kiepe von Frau Percht. Was wohl in diesem Leben aus ihr geworden ist? Das dürft ihr euch alle einzeln ausmalen!

AnaNut