Ein Blick im Dunkeln über einen See

Morgaine und Morrigu

Die mythische keltische Gestalt der Morgaine oder Morrigu steht in ihrer nebelgleichen, schwebenden, verschwindenden – und dann aus der Unsichtbarkeit wieder auftauchenden – Erscheinung für spätherbstliche Zauberwesen, wie sie uns in der Samhainzeit manchmal umgarnen. Morgaine bezaubert durch ihre feenschöne, verführerische Gestalt und blendet dabei gerne den Verstand. Dieser ambivalente Aspekt drückt sich in ihrem anderen Namen Morrigu aus. Denn ihre unwirkliche Schönheit kann unversehens auch zur Gefährdung und zum Trugbild werden. Welcher ganz vernünftige Mensch lässt sich nicht gerne einnehmen, „verführen“, wenn ihr oder ihm unerwartet eine vollendete Verkörperung der höchsten Ideale leibhaftig entgegentritt? Oder wenn uns eilfertig für eine ausweglose Zwickmühle die ganz einfache Lösung vorgegaukelt wird? Und wer kennt nicht das bestätigende und selbsterhöhende Gefühl, auf der Seite der scheinbar „Guten“ und „Richtigen“ zu stehen?

In der keltischen Sage lockt die feenschöne Morgaine den Weisen und Zauberer Merlin in ihr magisches Traumschloss. In seiner Begeisterung für das anmutige Wesen verliert Merlin rasch seine Orientierung, seinen Verstand. Er irrt ihr nach und währenddessen versiegelt eine dynamisch wuchernde Brombeerhecke das Zauberschloss. Seine Weisheit kommt dem weisen Merlin abhanden, sie hat sich unbemerkt in Nichts aufgelöst. Er verirrt sich hilflos in Morgaines Traumwelt im Schloss und die Geschichte geht schlecht aus für ihn: Er wird zum Gespött der Leute und endet schließlich erbärmlich in den unsichtbaren Ketten der Morrigu.

Die keltische Sage will uns an unsere Empfänglichkeit für Illusionen, Selbsttäuschungen und Selbstgerechtigkeit erinnern, und an unsere Verführbarkeit durch das scheinbar Einfache und Ideale, durch das trügerisch „Gute“. Sie öffnet uns die Augen dafür, dass nichts nur so ist, wie es scheint, und dass alles auch eine Rückseite hat. Diese Facette der Wirklichkeit zeigt sich uns in der Symbolsprache der keltischen Welt auch dadurch, dass Morrigu nur eine Vorderseite hat, sie also eigentlich nur eine Fassade ist, und ihre Rückseite ist hohl, schwarz und hässlich.

Novembernebel locken hinein in eine Vieldeutigkeit, laden uns ein, uns darin bewegen zu lernen, unsicher zu sein, und dabei Mehrdeutigkeit und Unbestimmtes zu erkennen und aushalten – obwohl wir vieles gerne klar und eindeutig hätten…

Avesta