Bäume auf einer Wiese

Eine kleine Geschichte zu Walpurgis

Leise und voller Spannung setze ich meine weichen Pfoten voreinander im dunklen Garten, meine Sinne sind scharf wie meine Krallenspitzen. Heute ist die besondere Nacht! Meine Haut zuckt über den angespannten Rückenmuskeln und lässt mein Fell sich sträuben, hrrr. Alles vibriert in mir, meine Schnurrhaare sind aufgerichtet und eine innere, uralte Stimme drängt mich vorwärts, hin zu den sechs Eiben oben am Weiher. Nur heute singen sie, das weiß ich. Der Mond steht als zarte Sichel tief am Himmel, die tanzenden Schatten und Düfte von Mäuseangst, Maiglöckchen, welkenden Apfelblüten und Menschen lenken mich nicht von meinem Ziel ab. Dort bei den Eiben ist es dunkel. Die Töne der Eiben schwellen langsam auf und ab, weben ein Muster durch Zeit und Raum. Ich lasse mich nieder und verharre gespannt, den Schwanz gerade auf der Erde von mir gestreckt, gut mit der Erde verbunden. Bilder entstehen in meinem Innern von Zeiten, in denen hier nur Felder waren, am Rand des großen Hofes. Menschen zogen in jener Nacht in einer Prozession mit Fackeln und Gesang die Feldränder entlang, um sie mit Fruchtbarkeit für das Jahr zu segnen. Sie sprangen über ein Feuer auf dem Hofplatz mit wilden, fröhlichen Gefühlen: frei, ihre Wünsche in die Welt zu rufen und sie durch das Feuer zu entzünden. Sie tanzten, lachten und tranken viel. Einige Paare zogen sich in die Dunkelheit auf die Felder zurück und liebten sich auf der feuchten Erde, um alles Lebendige zu befruchten. Andere bitzelten sich gegenseitig mit Birkenreisig ab, um sich zu erneuern.

Die Luft ist erfüllt mit Wissen und Bildern vergangener und gegenwärtiger Zeiten – die Energien strömen durch alles Lebendige hindurch, vermischen sich und werden neu geboren. Ich blinzele und bewege meine steifen Muskeln aus meiner Sphynx-Haltung heraus, als die Bilder sich ändern. Die Zeiten verschieben sich und ich verstehe, dass die Energien, Erinnerungen und Geschehnisse nicht nur hier im Eibengesang gespeichert sind. Jeder Ort auf Mutter Erde hat sein eigenes Lied, gestaltet von allem, was jeh dort passiert ist. Und alles ist miteinander in Verbindung, sodass ich sogar kurz mit den Katzen von Kassandra, Nofretete und Michelle Obama in Kontakt treten kann. Ein berauschendes Gefühl. Alles Wissen steht mir zur Verfügung, flüchtig und mächtig und alles verbindend, ich spüre es. Meine Menschen habe ich schon davon sprechen hören als morphogenetisches Feld, jetzt weiß ich, was sie meinten. Diese Nacht hat es in sich, aber das Gewebe besteht ja immer weiter in Zeit und Raum, spüre ich noch. Meine Nase juckt, ich muss schrecklich nießen. Die Verbindung ist weg, weil so ein frecher Blütenstaub in meiner Nase kribbelt. So muss es meinen Menschen bei Meditationen gehen, hab ich schon beobachtet.

Ich strecke und dehne meine ansehnlichen Muskeln, zeige gähnend mein eindrucksvolles Gebiss und putze mich erstmal ausgiebig – jetzt, da die Verbindung futsch ist. Doch was ist das? Kichernde Frauen kommen auf den Hofplatz und entfachen ein Feuer, bitzeln sich mit Birkenreisig, kehren mit bunt geschmückten Reisigbesen Verstaubtes fort und springen Wünsche rufend über das Feuer. Ich habe das Gefühl, die Eiben lächeln in sich hinein und in die wilde Nacht, die tief in das Weltengefüge hineinwirkt. In der Sandkuhle zwischen den Eibenwurzeln mache ich es mir gemütlich, schaue mit einem Auge den wilden Frauen zu und lächle mit den Eiben mit.

AnaNut